Gscheite Gschichte #1 2020 Mittel zum Leben – Zuversicht, die schmeckt!

Zahlreiche Menschen haben sich bereits auf den Weg gemacht. Sie wollen hin zu selbstbestimmtem miteinander Wirtschaften für gute Nahrung, die sie und ihre lokalen Ernährungsräume verbindet. Sie wollen Essen, das schmeckt, weil es gewürzt ist mit Gemeinschaftsgefühl und Gestaltungsspielraum.

Wenn Gemeinschaften die Lebensmittel-Nahversorgung gestalten, Bildung ganz nebenbei im Tun passiert und ausstrahlt, dann ist die Saat für Zuversicht aufgegangen und erblüht!

Das Motto:„Wenn Sie essen, sind Sie dabei!“

„Gibt es eine Sprache, die über Kultur-, Alters- und Einkommensunterschiede hinweg verbindet? Eine Sprache, die den Menschen selbst hilft ihre neue Lebensart zu finden? Die Räume um sie herum anders zu sehen und die Ressourcen, die sie verbrauchen? – Ja, diese Sprache heißt: Essen!“, erklärt die Umweltaktivistin Pam Warhurst den Beginn des Netzwerkes der Essbaren Stadt 2008 in Todmorden, England.

Das Konzept der freiwilligen Garteninitiative Incredible Edible entwarf sie mit Gleichgesinnten am Küchentisch. Sie stellten den „Spielplan“ dazu auf einer öffentlichen Versammlung ihrer 15.000 Menschen-Gemeinde vor – und inspirierten! Drei Aspekte waren ihnen als Initiative wichtig: Gemeinschaft (wie sie ihren Alltag gestalten), Lernen (was sie ihren Kindern in der Schule lehren und selbst lernen) und Wirtschaft (was sie mit ihrem Geld tun). Sie fragten niemanden um Erlaubnis, sondern legten einfach los: Entlang der Kanalschleppwege, vor der Polizei und gar auf dem Friedhof wurden Früchte, Kräuter und Gemüse angebaut. Als Teil des lokalen Essens-Puzzles malten künstlerisch Begabte die Schilder und erklärten, was wo wächst. Sie bauten mit den Kindern eine Aquaponik-Anlage auf, eine miteinander verbundene Fisch- und Pflanzenzucht, und legten einen Obstgarten mit Bienenstöcken an. Sie erfanden eine grüne Route durch die Gemeinde, entlang der lokalen Geschäfte – für die TouristInnen, die sie mittlerweile anzogen. All das wirkte und stärkte Gemeinschaftsgefühl und lokale Wirtschaft. Die örtlichen Behörden entschieden schließlich, Incredible Edible überall zu ermöglichen: Sie bauten ein Vermögensregister für freies Land im Gemeindeeigentum auf und gaben es den Tafeln, sodass Gemeinschaften es nutzen können. Und sie forderten ihre gesamte Belegschaft auf, diese Gemeinschaften beim Wachsen und Pflegen der essbaren Grünräume zu unterstützen.

Essbare Stadt – von oben wie von unten

Anders lief es in Andernach, hier kam die Initiative von der Behörde, das Stadtplanungsamt war Mitinitiator. Die 30.000 Menschen-Gemeinde setzte 2010 mit dem Anbau von 101 Tomatensorten ihren Fokus fürs städtische Grün auf Biodiversität der Nutzpflanzen und urbane Landwirtschaft. Bohnen, Zwiebeln und weiteres Essbares folgten. Nun wird überlegt, wie die AndernacherInnen (mehr) ins Nutzen und Pflegen eingebunden werden können. Andernach ist auch das Vorbild für die Essbare Stadt in Dornbirn, allerdings wurde hier privat initiiert mit einer Crowdfunding Kampagne, die auch von dm-drogeriemarkt unterstützt wird: Ausgehend vom im Frühjahr 2019 geschaffenen Pilotgarten rund um das Kulturhaus möchten die InitiatorInnen gemeinschaftlich mit vielen Menschen ein Netz aus essbaren und blühenden Flächen in Dornbirn schaffen. Zwischenzeitlich gibt es über 25 Essbare Städte, Gemeinden oder Landschaften in Österreich. Tendenz weiter steigend. Umweltschutz, der schmeckt, könnte in neuen Gebieten von Anbeginn und gebäudeübergreifend mitgedacht werden. Viele Bäume und viel Grün – das suggerieren oft die Renderings im Vorfeld und erhöhen die Vorfreude der künftigen BewohnerInnen von Stadtentwicklungsgebieten. Doch bei Einzug kommt dann oft die Ernüchterung: Gefühlt, weil die Pflanzen ja erst wachsen müssen; und tatsächlich, weil doch mehr Fläche asphaltiert und betoniert wurde. So erging es einer Bewohnerin in der Seestadt Aspern in Wien – sie wurde aktiv, und 2018 Teil des Forschungskonsortiums „Essbare Seestadt“. Die Bewohnerin war mit ihrem Anliegen nicht allein: In einer Umfrage mit 300 TeilnehmerInnen waren 91 Prozent dafür, die Seestadt stärker zu begrünen, 81 Prozent wollten verstärkt Obst und Gemüse anbauen, für mehr Grün an Fassaden und Dächern stimmten 94 Prozent, 88 Prozent wollen beim Balkongärtnern unterstützt werden.
Mehr dazu: Selbstversorgen in der Stadt braucht Land!

Statt Almosen
Lebensmittelrettung und Teilhabe

„Es ist ein Dilemma. Sozialmärkte helfen Menschen unmittelbar, dass sie etwas Ordentliches auf dem Tisch haben. Doch gleichzeitig schaffen sie Parallelstrukturen, die für Bedürftige beschämend sein können. […] Denn eigentlich sollten die Sozialleistungen so bemessen sein, dass Sozialmärkte überflüssig sind,“ sagt Martin Schenkvon der Armutskonferenz.Als armutsgefährdet gilt in Österreich, wer allein lebt und weniger als 1.286 Euro/Monat Nettoeinkommen hat oder unter 2.700 Euro als Familie mit zwei Kindern. Die Einkommensgrenzen für das Einkaufen in Sozialmärkten sind daran orientiert, liegen teils auch darunter oder werden individuell beurteilt. Die Ware: abgelaufenes Mindesthaltbarkeitsdatum, beschädigte Verpackung, somit Wegwerf- und Restware – direkt vom Supermarkt oder auch Hersteller, teils – zu Beginn der Lockdowns – auch aus der Gastronomie. Sie wird verbilligt an bedürftige Menschen abgegeben, zu zahlen ist maximal ein Drittel des regulären Preises. Die Sozialmärkte expandieren seit Jahren: 2009 hatte Wien vier Sozialmärkte. Heute sind es 23 – darunter der europaweit erste Sozialmarkt, der in einem Einkaufszentrum eröffnet hat: Der SOMA im Donauzentrum wird von den dortigen HändlerInnen und Shops beliefert. Die ansässige Gastronomie bereitet frische Speisen für den Sozialmarkt zu. Das Einkaufen in  Sozialmärkten rettet Lebensmittel. Wer hier einkaufen kann, kann nicht anders und handelt dabei ökologisch. Im Soogut Sozialmarkt in St. Pölten spenden die BäuerInnen der Region jede Woche frisches Gemüse – reguläre Ware! Die Nachfrage ist groß, die Transportwege kurz. Darüber hinaus wird für den Standort das gemeinschaftliche Verwerten und Haltbarmachen der nicht verkauften Lebensmittel überlegt – damit geht das Vernetzen mit Solidarischen Landwirtschaften und den AkteurInnen der Essbaren Stadt, die deren Räume mitnutzen könnten. Denn im Soogut Markt in St. Pölten gibt es eine Gastroküche mit angeschlossenem Café. 491.000 Tonnen Lebensmittelabfall sind im Jahr in Österreich vermeidbar – das besagt eine Studie des WWF und von Mutter Erde von 2016 und schließt dabei die Abfälle aus Handel, Außer-Haus-Verpflegung und Privathaushalten ein: Aufgeteilt auf die 1.563.000 Menschen, die 2017 armuts- und ausgrenzungsgefährdet waren, sind das rein rechnerisch 314 Kilogramm Essen pro Jahr und gefährdeter Person.
Mehr dazu: Der Gemeinschaft verpflichtet macht freier

 

Selbsthilfe statt Weltverbessern

„Stell dir vor, du fährst in einem vollen Bus. Schau dich in Ruhe um, schau wer alles mit dir fährt. Und jetzt stell dir vor, dass du mit all diesen Menschen gemeinsam ein Unternehmen aufbauen und führen wirst!“, so stellte Tom Boothe das Konzept des kooperativen New Yorker Supermarktes Park Slope Food Coop vor. Das war Mitte Oktober 2020 im Stadtkino Künstlerhaus in Wien– ein Abend organisiert von engagierten Menschen von „MILA – Mitmach Supermarkt“ der nach dem New Yorker Vorbild in Wien entstehen soll: Gute und günstige Lebensmittel für Mitglieder, die zusammenarbeiten, gemeinsam besitzen und gestalten. 3.000 Mitglieder braucht es für den Anfang, die Mitgliederwerbung und Standortsuche läuft. Die Park Slope Food Coop hat heute 17.000 Mitglieder und ist nach 47 Jahren immer noch ein Selbsthilfeprojekt und kein Weltverbesserungsprojekt, sagt einer der Gründer: Die Diversität der Mitglieder ist hoch, die meisten gewöhnliche, bürgerliche New YorkerInnen. Der Anspruch: qualitativ hochwertige, erschwingliche und verantwortungsvoll produzierte Lebensmittel. Dafür müssen alle knapp drei Stunden im Monat mitarbeiten, um einkaufen zu können. Das bringt alle auf Augenhöhe und reduziert das Teuerste: die Personalkosten. Die Park Slope Food Coop macht mit rund 560 Quadratmetern Verkaufsfläche fast den 10-fachen Umsatz wie ein Hofer-Discounter mit durchschnittlich 710 Quadratmetern. Mit 9.348 Euro Umsatz am Quadratmeter Verkaufsfläche belegt Hofer 2019 weiterhin Platz  1 in Österreich. Park Slope Food Coop ist im Eigentum der Mitglieder, der Ankauf geschah, bevor Brooklyn gentrifiziert wurde. NachahmerInnen gab es,  doch viele scheiterten: Mit „Coopérative La Louve“, der Wölfin, gelingt es 2017 in Paris. Der erste kooperative Supermarkt in Europa mit dem Anspruch:  „Unsere Ambition als Konsumentengenossenschaft ist es, wirklich für das gesamte Viertel da zu sein. Wir sind in einem Einwandererviertel. Unsere Verantwortung ist wie die einer öffentlichen Bücherei. Wir haben eine bildende Rolle und sind offen für alle,“ sagt Boothe. „Coopérative La Louve“ ist eingemietet im Erd- und Untergeschoss eines Hauses des größten städtischen Vermieters von Sozialwohnungen.

Machtkonzentration – Kosten für alle

Die fünf größten Supermarktketten in Österreich hatten 2018 bereits 95 Prozent Marktanteil. Doch dem nicht genug, die Machtkonzentration wird über Eigenmarken weiter ausgebaut: Bei Eigenmarken werden die Supermarktketten selbst zu ProduzentInnen oder machen aus HerstellerInnen LohnproduzentInnen. Der Eigenmarkenanteil reicht teils schon über 45 Prozent. „Damit brauchen sie die Bauern nicht mehr, den Bäcker nicht mehr, den Fleischhauer nicht mehr,“ zitiert Dossier den ehemaligen Vorstand einer Supermarktkette dazu. Die Folgen der Machtkonzentration: Die Vielfalt, Innovation und selbstbestimmte Arbeit in der Lebensmittelversorgung gehen verloren. Und es korreliertmmit hohen Preisen: Rund ein Viertel mehr als im EU-Durchschnitt kosten Lebensmittel hierzulande.

Autorin: Beatrice Stude