#4 2019 Gscheite Gschichte – Die große Rückeroberung
Jahrzehntelang lief in Städten weltweit alles für das Auto. Nun verzeichnen einige trotz Bevölkerungszunahme weniger Neuzulassungen – die BewohnerInnen holen sich den an Straßen und Parkplätze verloren gegangenen Raum sukzessive zurück.
Was wäre, wenn der Gürtel in Wien in Zukunft nicht mehr drei Fahrspuren für Autos hätte, sondern nur mehr eine? Wenn anstelle des vielen Asphalts, der Verkehrsschilder, Abbiegespuren und Richtungspfeile Wiesen zum Ausruhen einladen würden? Bäume könnten Schatten spenden, Brunnen, Radwege und Sitzgelegenheiten zu neuen Naherholungsräumen werden und die jetzt für Parkplätze genutzten Parallel- und Seitenstraßen würden zu Gemeinschaftsflächen, für Urban Gar-dening und von Lokalen als Gastgärten genutzt.
Parkplatzloses Wien der Zukunft
Klingt utopisch? Nicht für Oliver Bertram, CEO des im Palais Collalto in der Wiener Innenstadt angesiedelten Unternehmens Wideshot. Das Designbüro beschäftigt sich üblicherweise mit der Konzeption von Raumschiffen für Hollywoodfilme, Märchenschlösser für Millionäre, Monster für Videospiele und VIP-Lounges für die Formel 1. In einem Beitrag für die Vienna Design Week entwarfen Bertram und sein Team vor knapp einem Jahr aber auch interessante Szenarien für ein weitgehend parkplatzloses Wien der Zukunft. Dabei gingen sie davon aus, dass selbstfahrende Autos und die Sharing Economy in den kommenden Jahren zu einem deutlichen Rückgang der abgestellten Fahrzeuge und einer effizienteren Nutzung von Fahrspuren führen und der frei werdende Raum anders genutzt werden kann. Das Potenzial ist laut Bertram enorm: „Pro Auto stehen in Wien etwa zweieinhalb Parkplätze mit einer Fläche von durchschnittlich 12,5 Quadratmeter zur Verfügung. Das ergibt eine geschätzte Gesamtparkfläche von rund 22 Millionen Quadratmeter.“ Etwa fünf Prozent des gesamten Wiener Stadtgebiets sind damit exklusiv für parkende Fahrzeuge reserviert – das entspricht der Fläche von mehr als 3.000 Fußballplätzen!
Vielfalt der Möglichkeiten überrascht
Wie sollen nun aber ausgerechnet autonom fahrende Fahrzeuge dabei helfen, das Potenzial zu erschließen? Bertram lächelt: „Ein Auto steht heute im Schnitt 22 bis 23 Stunden am Tag, in vielen Fällen sogar wochenlang, ohne dass es gefahren wird. Autonome Autos könnten anstatt zu parken hingegen andere Fahrgäste transportieren.“ Damit wären die Fahrzeuge deutlich effizienter ausgelastet, laut ExpertInnen würden bis zu 80 Prozent der Stellplätze für andere Nutzungen frei. Dabei scheinen der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. Entwürfe des Wideshot-Teams zeigen etwa grasende Pferde und Ziegen in der Wiener Börsegasse. „Wir untersuchen jetzt schon seit zwei Jahren die Potenziale und sind von der Vielfalt der Möglichkeiten immer wieder überrascht“, so Oliver Bertram. „Wir können Flächen entsiegeln, Bäume pflanzen und Biodiversität fördern, Gemeinschaftsbereiche schaffen, den Vorgarten neu erfinden, Microshopping und Wochenmärkte ermöglichen, Spielplätze schaffen. Sogar Gebäude ein paar Meter weiter in die Straße hineinzubauen ist eine denkbare und in manchen Fällen sehr sinnvolle Option, vor allem bei Häusern, die weder Balkone noch ausreichend große Fensterflächen haben.“
Trend zu weniger Autos
Wie realistisch ist das aber alles? Sind die Überlegungen lediglich Zukunftsvision und von der Verbreitung autonom fahrender Autos abhängig, deren Durchbruch ExpertInnen für die 2030er-Jahre prophezeien? Oder steckt doch mehr dahinter? Definitiv Letzteres, denn ein Trend hin zu weniger Pkw in der Stadt ist auch jetzt schon eindeutig messbar. Laut einer aktuellen Analyse des „VCÖ – Mobilität mit Zukunft“ auf Basis von Daten der Statistik Austria ging seit dem Jahr 2005 in neun Wiener Bezirken trotz Bevölkerungszunahme die Anzahl der zum Verkehr zugelassenen Autos zurück. Im Alsergrund zählten die Statistiker bei einer um 3.259 gestiegenen EinwohnerInnenzahl um 1.020 weniger Autos. In der Josefstadt ging die Anzahl der Pkw um 560 zurück, in Margareten sogar um 1.112 und in Mariahilf um 613. Auch in Neubau, Brigittenau, Wieden, Landstraße und Rudolfsheim-Fünfhaus ist die Zahl der Autos gesunken und Ähnliches beobachtet VCÖ-Experte Markus Gansterer auch in anderen westlichen und österreichischen Städten: „Der Pkw-Motorisierungsgrad (Anm.: Anzahl Pkw pro 1.000 Einwohnenden) ist in praktisch allen größeren urbanen Gebieten Westeuropas rückläufig. Österreichweit stieg er 2018 im Vergleich zu 2010 zwar um sechs Prozent, das Plus ist aber beinahe ausschließlich auf Zuwächse am Land und in kleineren Städten zurückzuführen. In Wien ging der Motorisierungsgrad im gleichen Zeitraum um fünf Prozent zurück und in Innsbruck um zwei Prozent. In Graz und Linz fiel das Plus mit jeweils 0,7 Prozent in Relation zu den Jahren davor nur noch sehr gering aus.“
Junge sagen dem Auto Adieu
Gründe, warum das Auto in größeren Städten immer öfter im Abseits steht, gibt es viele – die wichtigsten: Parkplätze werden zunehmend rar und teurer, Staus kosten Nerven und Zeit, und mit Sharing-Diensten, gut ausgebauten Radwegen und öffentlichen Verkehrsnetzen gibt es vermehrt kostengünstige und praktische Alternativen. Das Auto als Hauptverkehrsmittel und Statussymbol verliert infolgedessen vor allem bei jungen Menschen an Bedeutung. Nur mehr jede/r zweite 18- bis 25-Jährige hält laut einer Umfrage des Center of Automotive Management (CAM) der FH Bergisch Gladbach in Deutschland einen eigenen Pkw für „wichtig“ oder „sehr wichtig“. Bei den StadtbewohnerInnen unter 25 Jahren liegt dieser Wert gar nur mehr bei 36 Prozent. Sie favorisieren mittlerweile alternative Mobilitätskonzepte und das Rad, setzen auf App-basierte Fahrdienste und stehen auch autonomen Fahrfunktionen und Robo-Taxis aufgeschlossen gegenüber.
Platz für Klimawandelanpassungsmaßnahmen
StadtplanerInnen und kommunalen Verwaltungen kommt dieser Paradigmenwechsel durchaus gelegen. Die engen Platzverhältnisse in historisch gewachsenen Zentren ließen ihnen zuletzt kaum mehr Spielraum für Straßen-Ausbauten und -Neubauten. Die hohe Feinstaubbelastung und der viele Verkehrslärm werden von BewohnerInnen zudem immer öfter als gesundheitliche Gefahren erkannt, die Lebensqualität leidet. Dazu kommt: Steigende Temperaturen machen in urbanen und dicht verbauten Gebieten die Umsetzung von Klimawandelanpassungsmaßnahmen dringend notwendig, für die aktuell aber neben dem Geld schlicht oft auch der benötigte Platz fehlt. Wo in Zukunft Bäume Straßen kühlen sollen, müssen schließlich heute Parkplätze reduziert werden, wie auch das Beispiel der „Kühlen Meile“ Zieglergasse zeigt. Auf gut einem Kilometer wird dort im siebten Gemeindebezirk mit neu gesetzten Bäumen, Trinkbrunnen, Kühlbögen, Beschattungen und begrünten Hausfassaden Wiens erste klimaangepasste Straße realisiert. Im Zuge der Umbauten entstehen 150 neue Fahrrad-Stellplätze, die Zahl der Auto-Parkplätze wird hingegen um rund 50 reduziert.
Immer mehr nationale Aktivitäten
Auch in anderen heimischen Städten tut sich etwas, haben alternative Mobilitätsangebote und Öffentlicher Verkehr immer öfter Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr. In Salzburg beispielsweise wurde zuletzt das straßenbauliche Großprojekt der Nordspange Salzburg (inklusive Gitzentunnel) zugunsten eines zweispurigen Ausbaus der Lokalbahn und einer Taktverdichtung (15 Minuten-Takt) aufgegeben. In Graz werden durch Mobilitätsverträge schon beim Wohnbau Anreize gesetzt, eine klima- und stadtverträgliche Mobilität der künftig dort Wohnenden mitzuplanen. Markus Gansterer vom Verein VCÖ – Mobilität mit Zukunft: „In Neubaugebieten wird hierzulande heute deutlich mehr Wert auf die Gestaltung des öffentlichen Raums gelegt, als das früher der Fall war. Auch Mobilitätskonzepte spielen bei der Planung neuer Wohngebiete eine immer größere Rolle, und immer öfter wird auch versucht, die Mindestzahl der vorgeschriebenen Parkplätze zugunsten von Carsharing-Angeboten, Öffentlichen Verkehrsmitteln und Radwegen zu reduzieren. Natürlich gibt es bei alledem noch Luft nach oben, aber die Richtung stimmt.“
Internationale Vorbildstädte
Die Richtung stimmt auch in vielen anderen Städten weltweit, die dem Problem des Innenstadtverkehrs mit unterschiedlichsten und durchaus radikalen Konzepten begegnen. Während die estnische Hauptstadt Tallin beispielsweise auf kostenlose öffentliche Verkehrsmittel setzt, verbannt die kolumbianische Hauptstadt Bogotá jeden Sonntag Autos von mehr als 120 Kilometern Straße. Barcelona wiederum experimentiert mit fußgängerfreundlichen Superilles – sogenannten „Superblocks“ – und sperrt quadratische Bereiche aus neun Häuserblocks für den Autoverkehr. Vermehrt zu Fuß gegangen wird heute auch in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, wo Mitte der 2000er-Jahre praktisch die gesamte Innenstadt zur Fußgängerzone erklärt und in weiterer Folge sogar ein Teil der Hauptverkehrsachse für Autos gesperrt wurde. Die flämische Hauptstadt Gent konnte sich mit einem neuen Mobilitätskonzept, dem Ausbau von Radwegen sowie der Förderung der Zustellung von Waren mit Transport-Fahrrädern vom Durchzugsverkehr befreien. Utrecht hat mehr oder weniger die gesamte Innenstadt in eine Begegnungszone verwandelt, und in Amsterdam werden ab sofort bis 2025 jährlich 1.500 AnwohnerInnenparkplätze durch breitere Gehwege, Straßengrün und Radwege ersetzt. Um den Verkehr aus dem Zentrum zu bringen, kostet eine Stunde Parken in der niederländischen Hauptstadt mittlerweile 7,50 Euro. Tagestickets in den Park+Ride-Parkplätzen gibt es hingegen schon ab 1 Euro, wenn mit dem Öffentlichen Verkehr ins Zentrum gefahren wird.
Wandel mit tiefgreifenden Folgen
Für Wideshot-CEO Oliver Bertram verändert sich mit Maßnahmen wie diesen unser Mobilitätsverhalten, mittel- bis langfristig aber auch die Architektur unserer Städte: „Gebäude werden sich stärker ändern, als es auf den ersten Blick scheint. Zum einen ist ein gewisser Teil von Gebäuden heute nur für Autos gebaut, zum anderen wird der Wandel in der Mobilität alle Bereiche unseres Lebens beeinflussen und damit auch die Gebäude. Das im Internet bestellte Paket kommt in Zukunft per Robo-Taxi und wird automatisiert geliefert, Abfall wird vollautomatisch entsorgt. Rettungswege im Gebäude müssen angepasst werden. Private Garagen und Stellplätze brauchen eine neue Nutzung, und Unternehmen, die heute hauptsächlich durch einen Tiefgaragen-Eingang betreten werden, müssen die Lobby anders konzipieren.“ Bertram weiter. „Dies ist aber nur ein ganz kleiner Teil der Veränderungen. Natürlich werden unsere Gebäude nicht von heute auf morgen unbrauchbar, aber es ist sicherlich nicht falsch, sich bereits jetzt Gedanken zu machen, was da kommen wird. Ansonsten baut man heute etwas, das in naher Zukunft unbrauchbar ist oder sogar wieder abgerissen werden muss.“
ÖAMTC: Mobilitäts-Gewohnheiten durch Angebote verändern
Stellt sich abschließend die Frage, was der ÖAMTC, Österreichs größte Interessensvertretung für AutofahrerInnen, zu diesen Entwicklungen sagt? Laut Bernhard Wiesinger, Leiter der ÖAMTC Interessensvertretung steht der Club einer Zukunft mit weniger Autos in den Innenstädten weniger ablehnend gegenüber, als man vielleicht vermuten könnte: „Schneller als der Pkw-Bestand wächst die Bevölkerung eigentlich nur in Wien. Dass dort die Öffis Vorrang haben, vertritt der ÖAMTC schon seit Jahren.“ Dabei dürfe laut Wiesinger aber nicht mit der Holzhammer-Methode vorgegangen werden: „Wenn es in Innenstädten zu Beschränkungen für Pkw kommt, braucht es unbedingt einen Interessensausgleich. Also: Zugänglichkeit erhalten statt Totalsperre – etwa durch Begegnungszonen. Garagenangebote, statt bloß Parkplätze streichen – etwa bei einem neuen Radweg. Parallel gewinnen Sharing-Angebote – vom Auto über den E-Roller bis zu E-Scootern – an Bedeutung.“ Nachsatz: „Wir sollten Mobilitäts-Gewohnheiten durch Angebote verändern, nicht durch Zwang.“