Ein Supergrätzl für Favoriten

In Wien Favoriten soll ein Supergrätzl nach dem Vorbild der Superblocks in Barcelona entstehen Verkehrsberuhigung und mehr Lebensqualität stehen an erster Stelle.

In der Herzgasse im Wien Favoriten kleben zwei dunkel gekleidete Männer mitten auf der Straße verschieden große Flächen ab. Vorbereitungen für einen Banküberfall? Nein, Georg Wieser und sein Kollege Florian Lorenz von der Agentur LAUT wollen anschaulich machen, wie die Flächen im Grätzl zwischen Gudrunstraße, Leebgasse, Quellenstraße und Neilreichgasse aufgeteilt sind. „Wenn alle Bewohner:innen hier einen Parkplatz hätten, bliebe kein Platz für etwas anderes übrig“, erklärt Florian Lorenz und deutet auf die blau beklebte Fläche, die für die Parkplätze steht. „Es gibt zu viele Autos“ hat denn auch jemand auf einen Zettel geschrieben, der auf einem orangefarbenen Board klebt. Die Besucher:innen des Straßenlabors sind dazu eingeladen, ihre Meinung zum geplanten Supergrätzl kundzutun. „Ich möchte, dass mehr Pflanzen hier sind. Und Bänke, wo man drauf sitzen kann“ ist auf einem anderen Zettel zu lesen.

Mehr Grün, weniger Lärm

In einem der dichtest bewohnten Viertel der Stadt soll in Anlehnung an die Superblocks in Barcelona ein Viertel entstehen, das für Verkehrsberuhigung, Begrünung und Kühlung in heißen Sommern steht. Für die Planung ist die MA18, Magistratsabteilung für Stadtplanung und Stadtentwicklung zuständig. „Das Viertel bietet sich an, weil es auf der Hitzekarte der Stadt Wien eine hohe Belastung aufweist“, sagt Astrid Klimmer-Pölleritzer von der MA 18. „Zudem befinden sich hier einige Bildungseinrichtungen, die von der Verkehrsberuhigung profitieren.“ Die Bezirksvorstehung von Favoriten stehe zu hundert Prozent hinter dem Konzept. Das Ziel des Supergrätzls ist ein verkehrsberuhigter Kern und die Konzentration des öffentlichen Verkehrs an den Außengrenzen. „Der öffentliche Verkehr ist jetzt schon auf einem hohen Niveau, alle Haltestellen befinden sich in Gehweite“, so Klimmer-Pölleritzer. „Beim Straßenlabor zeigte sich eine starke Tendenz der Bewohner:innen hin zu mehr Grün. Außerdem ein Fokus auf Radfahren und zu Fuß gehen.“ Mehr Pflanzenbeete und Radwege sind geplant.

„Die Straße aussöhnen“

Vorbild für das Supergrätzl sind die sogenannten Superillas, auch Superblocks genannt, in Barcelona. Bereits seit den 1990er Jahren gibt es hier verkehrsberuhigte Straßenblöcke von rund 400 mal 400 Meter oder drei mal drei Häuserblocks. Der Autoverkehr wird in diesen Vierteln neu organisiert: Ein ausgeklügeltes System von Einbahnstraßen verhindert, dass die Straßen innerhalb dieser Zonen zur Durchfahrt genutzt werden. Die Bewohner:innen sowie Einsatz- und Servicefahrzeuge haben weiterhin Zufahrt zu allen Häusern, das erlaubte Tempo wird auf zehn Stundenkilometer reduziert. Indem man die Autos teilweise verbannt, sollen Fußgänger:innen und Radfahrer:innen die Straßen, Parkplätze und Kreuzungen erobern. „Im Katalanischen heißt das pacif icar el carrer, was wörtlich ,die Straße befrieden‘ oder ,aussöhnen‘ bedeutet“, erklärt die in Barcelona lebende Landschaftsarchitektin Sigrid Ehrmann. Der erste Superblock war jener im Viertel Poblenou: Wo früher die Autos im Stau standen, spielen nun Kinder neben einem Café und einem Dutzend Picknicktischen.

Ganzheitlicher Zugang

Barcelona ist eine der Städte Europas mit den meisten Autos und der größten Luftverschmutzung. Seit dem Jahr 2000 ist die Bevölkerung der Region rund um die Hauptstadt Kataloniens um rund 1,2 Millionen Menschen gewachsen. Die Zahl der Pendler:innen ist dementsprechend gestiegen – und damit die Autodichte in der Stadt.

Das ursprüngliche Konzept der Superblocks von Salvador Rueda, Direktor der Urban Ecology Agency in Barcelona, geht über ein Verkehrskonzept weit hinaus. „Beim Ecosystemic Urbanism Model geht es um einen ganzheitlichen Zugang, der die Stadt als Ökosystem betrachtet, soziale und ökologische Gerechtigkeit sind wichtige Themen“, so Ehrmann. Der Superblock gilt als kleinstmögliche Basiseinheit dieses Stadtsystems und basiert laut Landschaftsarchitektin Ehrmann „sehr stark auf der flächendeckenden Umsetzung im ganzen Stadtgebiet.“

Bislang wurden in der Hauptstadt Kataloniens 12 Superblocks umgesetzt, insgesamt sind 503 geplant. 60 Prozent der bisher von Autos genutzten Straßen werden dadurch für andere Nutzungen frei. Eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts IS Global zeigt, welche positiven Auswirkungen die Umsetzung langfristig hat: Der größte gesundheitliche Nutzen entsteht aus der Verringerung der Luftverschmutzung, gefolgt von einer Minderung des Straßenverkehrslärms und Hitzemilderung. Untersuchungen ergaben, dass durch die ersten Pilotprojekte der Superblocks das Verkehrsaufkommen um 19 Prozent, Lärmemissionen um 2,9 Dezibel und die Temperatur um 20 Prozent zurückgingen. Die Lebenserwartung der Bewohner:innen stieg durchschnittlich um fast 200 Tage.

Höhere Lebensqualität

Dennoch hatte das Projekt zu Beginn nicht nur Freunde. „Vor allem der Superblock Poblenou geriet bei Teilen der Bevölkerung in die Kritik“, berichtet Sigrid Ehrmann. In diesem Stadtviertel sei die Gebäudedichte nicht so hoch wie in anderen Stadtteilen und es gebe einen hohen Anteil an Büroflächen. „Es wurde befürchtet, dass die Superblocks außerhalb der Bürozeiten zu einer urbanen Wüste verkommen.“ Die Befürchtung erfüllte sich nicht – die Superblock wurden gut angenommen und sind sehr belebt. „Besonders während des Corona Lockdowns wurden diese Räume sehr geschätzt, aufgrund des geringen Freiflächen- und Grünanteils im Zentrum Barcelonas“, bestätigt Ehrmann.

Was geschieht mit dem Durchzugsverkehr, der aus den Superblocks verbannt wird? „Das ist vor allem dann ein Problem, solange das Konzept nicht flächendeckend umgesetzt wird und entsprechende Alternativen wie öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrradwege fehlen“, erklärt Sigrid Ehrmann. „Es geht ja nicht darum, grüne Inseln zu schaffen, sondern bessere soziale und ökologische Bedingungen sowie eine höhere Lebensqualität für alle Bewohner zu schaffen.“ Auch andere Städte folgen dem Beispiel Barcelonas: Berlin plant sogenannte Kiezblöcke, eine Bürgerinitiative setzt sich für 180 verkehrsberuhigte Viertel ein. Derzeit ist die Schaffung von zwölf Kiezblocks in den nächsten fünf Jahren angedacht. Im Bezirk Pankow wird ab Frühjahr 2022 ein einjähriges Pilotprojekt starten, in dem das Komponistenviertel zu einem Kiezblock umgestaltet wird.

Auch auf kleinere Städte ist das Konzept anwendbar: In der baskischen Stadt Vitoria-Gasteiz (250.000 Einwohner:innen) wurden bereits 63 Superblocks umgesetzt, weitere 48 sind geplant. Im Jahr 2012 wurde Vitoria-Gasteiz mit dem European Green Capital Award ausgezeichnet.

Vorbereitungen für das Supergrätzl

In der MA18 laufen die Vorbereitungen für das geplante Supergrätzl auf Hochtouren. „Zurzeit werden Verkehrszählungen durchgeführt, um die Relationen zwischen Autoverkehr sowie Fuß- und Radverkehr einzuschätzen“, erklärt Astrid Klimmer-Pölleritzer von der MA18. Nach der einjährigen Pilotphase wird ausgewertet, inwiefern der Verkehr sich verändert hat. Die viel befahrenen Straßen rund um das Supergrätzl hätten das Potential, zusätzlichen Verkehr aufzunehmen, zudem wird davon ausgegangen, dass öffentliche Verkehrsmittel vermehrt genutzt werden und mehr Menschen zu Fuß gehen oder mit dem Rad fahren. „Das Angebot des öffentlichen Verkehrs ist in Wien schon sehr groß, soll jedoch noch erweitert werden“, so Klimmer-Pölleritzer. Der Durchzugsverkehr wird aus dem Viertel verbannt und die erlaubte Geschwindigkeit beschränkt. Nur Anrainer:innen dürfen dann noch mit ihrem Auto zufahren. Damit werden Schritte gegen die Auswirkungen des Klimawandels gesetzt und die Lebensqualität für Bewohner:innen erhöht. Weitere Wiener Supergrätzl sind angedacht, besonders im Nahbereich von Bildungseinrichtungen. Einige Bezirke wie Neubau zeigen sich interessiert, ein Leitfaden für Supergrätzl soll Anfang 2022 erscheinen.

Smart Cities Initiative in Favoriten

Der 10. Wiener Gemeindebezirk ist nicht nur Schauplatz für das erste Supergrätzl, sondern auch für ein Projekt der Smart Cities Initiative: Queen Gudrun II. Dabei handelt es sich um ein historisch gewachsenes Stadtviertel, in dem sich Gebäude aus der Gründerzeit ebenso wie aus allen Generationen der Nachkriegszeit befinden. Die Energieversorgung kommt derzeit noch überwiegend aus Erdgas-Heizungen, die zu hohen CO2-Emissionen führen. Schätzungen zeigen, dass durch umfassende Sanierungen mehr als 80 Prozent der Energien eingespart werden könnten. Erste Maßnahmenvorschläge wurden für das gesamte Projektgebiet bereits erarbeitet: „Dabei geht es um die Steigerung der Energieeffizienz im Gebäudesektor und die Erhöhung des Versorgungsanteils mit erneuerbaren Energiequellen durch Installation von Photovoltaik-Anlagen“, sagt Helmut Schöberl von der Schöberl & Pöll GmbH. Auch Begrünungsmaßnahmen für die Verbesserung des örtlichen Mikroklimas sind geplant; zudem wurde Kontakt zu potentiellen Betreibern von Energiegemeinschaften aufgenommen. Im Rahmen eines Pilotversuchs wird erstmals eine Energiegemeinschaft aufgebaut, welche selbsterzeugte Energie untereinander austauschen kann.

Ein Teil des Gebiets von Queen Gudrun II liegt im „Supergrätzl“.

Bildungseinrichtungen profitieren

Dort geht es auch um die Frage: Wie viel Freiraum wird den Bewohnenden des Grätzls zur Verfügung gestellt? Gemeinsam mit seinen Kolleg:innen setzt Florian Lorenz von der Agentur LAUT sich mit Fragen auseinander, die die Neugestaltung des Viertels betreffen, wie etwa: Wo können Bäume gepflanzt werden? Verschiedenfarbige Klebestreifen am Boden markieren die Leitungen, die unter der Erde verlaufen. Eine Tafel liefert die Erklärung dazu: Gelb steht für Gas, rot für Strom, blau für Trinkwasser. „Mit all den unterirdischen Leitungen ist es gar nicht so einfach, Platz für Bäume zu finden“, so Lorenz, das Potential sei jedoch vorhanden.

Fünf Kindergärten und eine Schule sollen von der Verkehrsberuhigung profitieren. „Derzeit ist der Verkehrslärm auf der Straße davor zu laut, um die Fenster in der Schule aufzumachen“, so Lorenz.

In der Herzgasse ist die Schule aus, eine Gruppe von Jugendlichen sieht sich die Informationen zum Supergrätzl an. Ein Schüler nimmt sich ein post-it, schreibt etwas darauf und klebt es auf das orange Board. „Ich finde die Idee voll schön.“