#3 2019 – Eine neue Welt entdecken

In unseren Städten ist noch jede Menge Platz: Auf Dächern können Gärten angelegt, kann Energie erzeugt und neuer Wohnraum geschaffen werden – und das sind nur einige von vielen Nutzungsmöglichkeiten.

Sonntagfrüh an einem Sommertag in Wien. Langsam erwacht die Stadt über der Stadt zum Leben. Während unten in der Gasse ein Mittvierziger in Ruderleibchen, Sporthose und Badeschlapfen zum Bäcker ums Eck schlendert und ein Stück weiter eine Mutter mit Kind auf die Straßenbahn wartet, scheint hier oben auf der Dachterrasse zwischen Paradeisern, Bambus, Rosmarin und Chilis die Freiheit grenzenlos. Die    Sicht reicht von den Hochhäusern am gegenüberliegenden Donauufer und den Kirchturmspitzen der Innenstadt bis weit über die Vorstadt auf den Wienerwald. Der Wind ist angenehm frisch und die Geräusche der   Straßen erinnern hier oben an die Klangkulisse in einem Freibad: gedämpft, hintergründig, kaum wahrnehmbar.

Städte wachsen in den Himmel

Kaum wahrgenommen wurde bis  vor  wenigen Jahren auch das Potenzial der Dachflächen in Wien und anderen heimischen Städten. Zwar wurden auf immer mehr Häusern Dachgärten und Photovoltaik­ oder Solarthermie­ Module errichtet, der Trend zur Nutzung nahm trotzdem nur langsam Fahrt auf. Angetrieben vom immer knapper und teurer werden den innerstädtischen Raum rückt nun die stille Ressource aber zunehmend ins Bewusstsein; kommt Bewegung in die Sache. Seit einigen Jahren lotet eine wachsende Zahl von Unternehmen, ForscherInnen, Planungsbüros und Interessensgruppen aus, wie urbane Zentren vorsichtig in Richtung Himmel ausgedehnt werden können und welche Möglichkeiten sich in luftiger Höhe bieten.

Gewaltiges Potenzial

„Während im Neubau die Nutzung der Dachflächen mittlerweile in den meisten Fällen mit Dachterrassen oder Formen der Energiegewinnung mitgeplant wird, schlummern vor allem im Altbestand viele brachliegende Möglichkeiten“, bestätigt Susanne Formanek, Präsidentin des Österreichischen Instituts für Baubiologie und Bauökologie IBO und Geschäftsführerin der GRÜNSTATTGRAU Forschungs­- und   InnovationsGmbH. Wie groß das Potenzial in heimischen Großstädten tatsächlich ist, kann nur erahnt  werden. Fest steht:  Es ist gewaltig. In Berlin schätzen ExpertInnen die nutzbare Dachfläche auf rund 40   Millionen Quadratmeter, was dem Platz von  mehr als 5.000 Fußballfeldern entspricht. In Wien sind laut Dachflächenkataster bis zu 64 Prozent der insgesamt 53 Millionen Quadratmeter Dachflächen für die    Nutzung von Solarthermie und Photovoltaik geeignet. Wie viel davon aber  auch begrünt, als Dachgarten oder in anderer Form genutzt werden könnte, hat  noch niemand so genau errechnet.

Internationale Vorzeigebeispiele

Wie aber kann diese Fläche nachhaltig und klimawirksam genutzt werden? Sie mit Dachgärten und Photovoltaikanlagen verbauen und gut ist? „Das ist eine Möglichkeit“, sagt Susanne Formanek und lächelt. „Darüber hinaus gibt es aber viele Alternativen, sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. Alles, was an Nutzungen denkbar ist, ist prinzipiell auch realisierbar.“ Dass es sich dabei um keine leeren Worthülsen handelt, beweist   etwa die chinesische Stadt Tiantai, wo auf dem Dach eines Schulgebäudes ein Basketballplatz  und eine 200 Meter lange Laufstrecke errichtet worden sind. In Berlin­ – Kreuzberg wird über einem Baumarkt Fußball gespielt, in Budapest wachsen auf einer Kläranlage neuerdings Bäume, und in Hamburg hat sich ein Kindergarten das nebenan gelegene Parkhausdach zunutze gemacht und dort einen 400 Quadratmeter großen Spielplatz errichtet – Kletter­- und Burglandschaft inklusive.

Von der Sargfabrik bis zur Oase22

Gute Nutzungsbeispiele finden sich aber auch in Österreich: Am Dach des Badehauses der 1996 eröffneten Wohnanlage „Sargfabrik“ im 14.Wiener Gemeindebezirk lädt mittlerweile auf 100 Quadratmeter ein Teich mit Sitzgelegenheiten zum Ausruhen ein. Im Garten über dem Hauptgebäude gibt es Ruhebereiche, Steingärten und Beete, Obstbäume spenden Schatten. Die Wohnhausanlage Oase22 beherbergt eine Selbstversorgeranlage am Dach, das Hundertwasserhaus zeigt, welche Dimension Bäume auf einem Gebäude einnehmen können. Der Wohnpark Alterlaa wiederum beweist, dass ganz oben auch Swimmingpools wunderbar Platz finden, Firmen von Neusiedl über Schwertberg bis Bregenz haben Dächer in Pausen und Gemeinschaftsräume verwandelt. Mit jeder Menge Hightech wiederum werden auf der Spitze des rund 60 Meter hohen und im Rahmen des vom Klima und Energiefonds geförderten Projekts „Smart City Graz Mitte“ errichteten Science Towers in Graz Obst, Gemüse und Kräuter angebaut. Die Biosphäre dort wird von einem speziellen Energieglas umhüllt, das einerseits durch seinen Farbstoff das Sonnenlicht filtert und das Wachstum von Pflanzenkulturen fördert, andererseits aber auch elektrische Energie für den Betrieb des Turms erzeugt. In Kombination mit vertikalen Photovoltaikanlagen, Windturbinen, einer Geothermieanlage zum Kühlen und Heizen sowie Liftanlagen, die Strom erzeugen, produziert das Gebäude mehr Energie, als es selbst benötigt.

Rooftop-Farming & Urban Gardening

Auch anderswo werden Gebäudedächer aus Platzgründen zu neuen Anbauflächen: Frei nach dem Motto „die Stadt macht satt“ reifen hoch oben Paradeiser und Chilis, Erdbeeren und Salate, Bohnen, Kürbisse, Gurken und vieles mehr. Unter optimalen Bedingungen lassen sich in Gewächshäusern auf Stadtgebäuden zwischen 50 und 80 Prozent des Gemüsebedarfs der im Haus lebenden Menschen ernten, und in   einigen Forschungsprojekten werden auf Dächern sogar Fische gezüchtet. Dafür wird das Abwasser des Gebäudes darunter biologisch aufbereitet und verwendet – die Ressource Gebäude damit doppelt optimal genutzt. Positive Nebeneffekte: „Rooftop­Farming“ und „Urban Gardening“helfen dabei Transportwege zu reduzieren, erhöhen den Selbstversorgungsgrad von Ballungsräumen und wachsen zu neuen Lebenswelten für Bienen heran. StadtImkerei ist weltweit groß im Trend, auch weil der urban produzierte Honig durch das Fehlen der in vielen ländlichen Regionen weit verbreiteten Monokulturen frei von Pestiziden und damit   sogar gesünder als der Honig vom Land sein kann.

Auswirkungen auf das Mikroklima

Das größte Potenzial für die neue Welt über der Stadt sieht Susanne Formanek in Grünflächen und Dachgärten. Dabei macht es laut der Expertin allerdings einen Unterschied, ob der Aufbau mit acht bis zwölf Zentimetern nur gering gehalten wird (die Rede ist von extensiver Dachbegrünung) und die Fläche etwa für die Installation von Photovoltaik – Anlagen verwendet wird, oder ob hoch oben richtige Erholungsflächen Form annehmen: Mit Bäumen, Sträuchern, Pflanzen, Wiesen und kleinen Wasserflächen sowie Sitzgelegenheiten auf rund 80 Zentimeter Aufbau (intensive Dachgärten). „Beide Varianten haben einen spürbaren Kühl­ und Dämmeffekt auf das Geschoß darunter. Intensive Dachbegrünungen wirken sich darüber hinaus auch noch sehr positiv auf das Mikroklima der Stadt aus.“ Während sich die Oberflächen anderer Gebäude wie Stein, Beton und Glas erwärmen und die Hitze dann in der Nacht abgeben, werden Pflanzen nie wärmer als die Außentemperatur. Das heißt: Begrünte Dächer erhitzen die Umgebung nicht. Im Gegenteil: Durch Verdunstung erzeugen Pflanzen sogar angenehme Kühle, wirken damit urbanen Hitzeinseln entgegen und gelten deshalb als kostengünstige und äußerst effektive Klimawandelanpassungsmaßnahme. Dazu kommt: Dachgärten halten bei Starkregen große Mengen Regenwasser zurück, entlasten damit die Kanalisation und rechnen sich daher sogar finanziell – vorausgesetzt man lebt in Deutschland: Anders als in Österreich werden dort die Gebühren für die Beseitigung von Schmutz­ und Niederschlagswasser getrennt erhoben. Damit ist der Anreiz zur Entsiegelung und zur ökologischen Regenwasserbewirtschaftung groß, die Folge ist ein Bauboom bei Dachgärten. Zu beachten ist allerdings: Pflanzen benötigen Zeit zum Anwachsen, Raum und Pflege, was sehr stark von der Pflanzenwahl und den Standortbedingungen abhängig ist.

Sinnvoll nachverdichten

Rechnen können sich Dachbegrünungen aber auch für GebäudebesitzerInnen: Die im Vergleich zu einem Flachdach beispielsweise aus Kies nur geringfügig höheren Kosten amortisieren sich durch einen höheren Wert der Immobilie. Und ja, natürlich kann dort oben auch neuer Wohnraum geschaffen werden. Eine besonders einfache Möglichkeit zur Nachverdichtung hat das ACRInstitut AEE INTEC gemeinsam mit Partnern im Rahmen eines zweijährigen und vom Klima­ und Energiefonds geförderten Projekts entwickelt:die Roofbox. Dabei handelt es sich um eine vorgefertigte Raumzelle, die bis zum Passivhausstandard ausgebaut werden kann. Sie besteht aus großformatigen Wand­ und Dachteilen sowie einer integrierten Photovoltaik­Anlage und kann einfach auf bestehende Gebäude aufgesetzt werden. Bereits vorhandene Strukturen werden damit perfekt genutzt. In Paris bricht sich gerade eine ähnliche Idee Bahn, dort können Hauseigentümer Innen mit dem sozialen Unternehmen „Les Toits du Monde“ (Die Dächer der Welt) zusammenarbeiten. Der Deal sieht die Errichtung einer vorgefertigten Wohnung auf dem Dach vor, die anschließend deutlich unter Marktwert vermietet wird. Im Gegenzug erhält der/die EigentümerIn eine grundlegende Sanierung seines Gebäudes, beispielsweise eine neue Wärmedämmung.

Nicht „ob“, sondern „wann“

Was steht der großen Dachausbauoffensive nun noch im Wege? „Eine gute Frage“, resümiert Formanek, „natürlich hängt die Realisierung von Nutzungsideen von der Statik der Gebäude ab.So können aus diesem Grund die großen Dachflächen von Baumärkten und Einkaufszentren nur in den seltensten Fällen genutzt werden. Darüber hinaus spielen aber auch finanzielle Gründe und der Denkmalschutz eine wichtige Rolle. Oft steht auch die Uneinigkeit einer MiteigentümerInnenGemeinschaft im Weg.“ In den meisten Fällen geht es laut der Expertin aber einfach um das Tun.  Um das Planen, Ideen wälzen und Mut zur Realisierung haben. Die Technologie und die Systeme sind am Markt, die Umsetzung sei dann oft weniger kompliziert und deutlich günstiger als man glaube. Dazu kommt: eine Idee muss eine andere nicht zwingend ausspielen. Vieles lässt sich nebeneinander und miteinander errichten.  Es geht sicher nicht darum, in Flächenkonkurrenz zu treten, sondern den zur Verfügung stehenden Platz kreativ und bestmöglich zu nutzen. Wenn dann dort oben frischer Wind auch noch Abkühlung an heißen Sommertagen verspricht und selbst geerntete Erdbeeren, Paprika und Radieschen locken, sollte ohnehin nicht mehr das „ob“ die Frage sein, sondern nur noch das „wann“.