#1 2019 – Innenstadtbelebung
Fachmärkte und Einkaufszentren auf der grünen Wiese versprechen neue Jobs und wirtschaftlichen Aufschwung. In den Innenstädten kleiner und mittelgroßer Städte bewirken sie aber oft genau das Gegenteil.
Waidhofen an der Ybbs an einem Freitagvormittag im Frühling. Seit 7.00 Uhr früh bieten rund 40 Marktfahrer_innen beim Bauernmarkt im Herzen der im niederösterreichischen Mostviertel gelegenen Statutarstadt ihre Produkte an: Frisches Obst und Gemüse, Fleisch- und Wurstwaren aus eigener Erzeugung, Käse, frische Eier, Jungpflanzen und – wie es sich für die Region gehört – Most. Die Sonne scheint, Passant_innen drängen sich zwischen den Ständen, und wenige Meter weiter führen vor dem Rathaus mehrere Pensionisten_innen eine angeregte Unterhaltung. Bürgermeister Werner Krammer lächelt. Nicht, weil ihn die bisweilen unbeabsichtigt komischen Gesten der diskussionsfreudigen Frauen und Herren erheitern würden, sondern weil der zweimal wöchentlich stattfindende Bauernmarkt ein wichtiger Frequenzbringer für seine Stadt ist.
Zufriedenstellender Branchenmix
Zwischen 800 und 1.000 Personen kommen an diesen Tagen zusätzlich nach Waidhofen, rund 24.000 Besucher_innen sind es laut Statistik pro Woche insgesamt. Sie kaufen in der Innenstadt Bücher und Kleidung, frisches Brot, Kosmetikartikel und Babynahrung. Zutaten für das Mittagessen bekommen sie in der Filiale eines großen Lebensmittelhändlers am Freisingerberg, beim Bioladen am Oberen Stadtplatz, in einer der Fleischereien oder eben am Markt. Frisöre, ÄrztInnen, Therapieangebote, Drogeriemärkte, Banken, Fachgeschäfte für Elektro und Geschirr, ein Hotel, Sportartikel- und Blumenhandlungen, Optiker, Trafiken, Gasthäuser und viele andere Geschäfte und Dienstleister ergänzen das Angebot. „Es gibt natürlich immer Raum für Verbesserung“, sagt Bürgermeister Krammer, „unter dem Strich sind wir aktuell aber sowohl mit der Anzahl der Betriebe als auch mit dem Branchenmix sehr zufrieden. Die Zahl der Leerstände ist überschaubar.“
Kurze Wege in der Innenstadt
Das war nicht immer so: Am Tiefpunkt 2004 stand in der Innenstadt als Folge des immer rasanteren Strukturwandels im Handel und Gewerbe rund ein Viertel der Geschäfte leer, der weitere Trend verhieß nichts Gutes. Um diesem Trend entgegenzuwirken, begann sich die Stadtverwaltung intensiv Gedanken über die Attraktivierung des Zentrums zu machen, wie Bürgermeister Krammer erklärt. „Ziel war es, der schleichenden Negativentwicklung, die immer mehr Leerstände zur Folge hatte, einen Riegel vorzuschieben.“ Besserung sollte ein Maßnahmenpaket bringen, das seitdem immer wieder erweitert und abgeändert worden ist. Heute bildet es das Fundament des sogenannten „Waidhofner Weges“, der überregional Vorbildcharakter genießt: einer belebten, dynamischen und smarten Innenstadt mit kurzen Distanzen, vielen inhabergeführten Geschäften und fußläufig erreichbaren Nahversorgern. Die Maßnahmen reichen von Mietzuschüssen für Geschäftsansiedelungen und Förderungen für die Fassadengestaltung bis hin zu Investitionszuschüssen für Gastronomiebetriebe und zum Entfall der sogenannten Stellplatzausgleichsabgabe. In der Stabsstelle Standortentwicklung wurden die Belange von Stadtmarketing, Tourismusbereich, Wirtschaftsaktivitäten und Kulturveranstaltungen gebündelt, vernetzt und aufeinander abgestimmt. Mit vielen kleineren und größeren Veranstaltungen wie Einkaufsnächten und Sportevents wurde und wird zudem versucht, die Frequenz in der Innenstadt zu erhöhen. Bürgermeister Krammer: „Für uns ist ganz klar: Unser Einkaufszentrum ist die Innenstadt. Das Zentrum genießt deshalb in allen unseren Überlegungen absolute Priorität. Und das leben wir in der Gemeindepolitik auch quer durch alle Fraktionen.“
Global Shopping Village
Gab es nie Überlegungen zur Errichtung eines Einkaufszentrums in der Stadt oder außerhalb auf der grünen Wiese? „Natürlich gab es die immer wieder“, bestätigt Bürgermeister Krammer. „Glücklicherweise kam es aber nie zu einer Realisierung, und nachdem wir die negativen Auswirkungen solcher Zentren bei vielen anderen Städten seit Jahren beobachten können, stehen wir Bemühungen in diese Richtung sehr skeptisch und ablehnend gegenüber.“ Daran ändere auch das wiederholt vorgebrachte Argument nichts, Einkaufszentren würden neue Arbeitsplätze schaffen und für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen, betont Krammer. Das sei oft nur ein sehr kurzfristiger Effekt, den auch Filmemacherin Ulli Gladik in ihrer im Jahr 2014 erschienenen Dokumentation „Global Shopping Village“ am Beispiel von Fohnsdorf in der Steiermark beschreibt. Ein Einkaufszentrum brachte dort zwar zunächst tatsächlich neue Jobs, innerhalb weniger Jahre kam es aber in den Zentren der Nachbargemeinden – etwa in Judenburg oder Zeltweg – zu zahlreichen Geschäftsschließungen. Unter dem Strich gingen in der Region sogar viele Arbeitsplätze verloren. „Ein Einkaufs- oder Fachmarktzentrum würde eine massive Konkurrenz für unsere innerstädtischen Betriebe bedeuten und zu nichts anderem als einem Verdrängungswettbewerb führen“, so Krammer.
Konkurrenz durch Onlinehandel
Für Stadtentwickler Roland Murauer ist dieser Verdrängungswettbewerb letztendlich sogar ein Minusgeschäft. „Grundsätzlich braucht eine moderne Handelslandschaft neben funktionierenden Innenstädten auch Fachmärkte und große Handelsbetriebe“, sagt der Geschäftsführer des Beratungsunternehmens CIMA. „Allerdings ist dabei die Balance extrem wichtig, es kommt auf das richtige Verhältnis an. In Österreich hat sich dieses Verhältnis in den vergangenen Jahren sehr zum Nachteil der Innenstädte entwickelt, die in vielen Fällen wie ausgestorben wirken.“ Während sich in Waidhofen rund 50 Prozent der Handels- und Dienstleistungsflächen im Stadtkern befinden, konnten viele vergleichbare Städte nicht einmal 25 Prozent der Geschäftsflächen im Zentrum halten. „Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Fachmarktzentren stark discounterorientiert sind und das Geschäft dieser Ketten nun massiv vom Onlinehandel bedroht wird. Die Folgen davon sind jetzt schon spürbar“, sagt Murauer, der in vielen Zentren Leerstände und Mietpreissenkungen registriert, mit denen Betriebe aus den Innenstädten dorthin gelockt werden sollen. Der Konkurrenzkampf verschärfe sich damit weiter, und immer öfter würden Einkaufszentren und Fachmarktzentren überhaupt schließen und anschließend leer stehen. Die von der öffentlichen Hand errichteten Infrastrukturmaßnahmen wie Zu- und Abfahrtstraßen, Zuschüsse und Förderungen verpuffen damit oft schon nach wenigen Jahren Nutzung. Was bleibt, sind Immobilienruinen und große versiegelte Gebäude- und Parkplatzflächen.
Individuelle Lösungen gefragt
Wie lässt sich nun also das Erfolgsrezept einer florierenden Innenstadt beschreiben, die sich österreich- und europaweit so viele kleinere und mittelgroße Städte wünschen? Genügt es tatsächlich, Einkaufs- und Fachmarktzentren vor den Toren der Stadt zu verhindern, die Kräfte von Marketing und Tourismus zu bündeln – und die Wirtschaft der Stadt blüht auf? „Nein“, sagt Roland Murauer, „so einfach ist es natürlich nicht, und es gibt dafür auch kein Patentrezept. Jede Stadt verfügt über individuelle Rahmenbedingungen, die sich alleine schon aus der Topografie, der Lage und der Kaufkraft ergeben. Daher muss auch jede Stadt für sich selbst individuelle Lösungswege beschreiten.“ Der Stadtentwickler beschreibt die Suche nach einem dieser Wege am Beispiel der Stadt Enns in Oberösterreich, die Ende der 1990er-Jahre und Anfang der 2000er-Jahre mit einer massiven Leerstand-Problematik zu kämpfen hatte. „Enns hat eine wunderbare Innenstadt mit beinahe italienischem Flair und Ambiente, konnte diesen Vorteil aber jahrelang nicht in Erfolg ummünzen. Wir haben dann 2005 damit begonnen, die Situation im Detail zu analysieren und neue Wege zu identifizieren.“
Cittàslow-Bewegung
Dabei stießen Murauer und sein Team auf die 1999 von Orvieto in Italien ausgehende und von der Slow-Food-Initiative inspirierten „Cittàslow“-Bewegung (Città = Stadt, slow = langsam), die mittlerweile hunderte Kleinstädte in der ganzen Welt erfasst hat, damals aber österreichweit noch weitgehend unbekannt war. Hauptziele der Bewegung sind die Verbesserung der urbanen Lebensqualität und das Verhindern der Vereinheitlichung und Amerikanisierung von Städten, in denen Franchise-Unternehmen dominieren. Die Unterstützung und Betonung von kultureller Diversität und der eigenen und speziellen Werte der Stadt und ihres Umlandes sind ebenfalls zentrale Cittàslow-Ziele. „Wir sahen damit für Enns im Spannungsfeld des wirtschaftlich sehr starken oberösterreichischen Zentralraums mit all seinem Trubel und seiner Hektik eine interessante Nische. Wenn in anderen Städten Rastlosigkeit, Eile und Geschäftigkeit herrschen – so unsere Überlegung – dann könnte Enns als älteste Stadt Österreichs doch wunderbar für Langsamkeit, Entschleunigung und Qualität stehen.“
Langsamkeit findet Stadt
Die Idee brach sich 2007 Bahn, Enns wurde als erste Cittàslow-Stadt Österreichs registriert, die Stadt komplett auf die neue DNA ausgerichtet und Nachhaltigkeit großgeschrieben. Die Bedeutung des Grünmarkts wurde hervorgehoben, regionale Kulturbewegungen unterstützt, die Gastronomie- und Tourismusangebote ganz im Sinne des Città-Slow-Konzepts auf Qualität und Langsamkeit getrimmt. Mit Erfolg: Innerhalb weniger Jahre ging der Geschäfts-Leerstand in der Innenstadt von 18 Prozent auf vier Prozent zurück, die Zahl der Nächtigungen stieg. Voraussetzung für Erfolge wie diese ist laut Murauer, dass alle Entscheidungsträger_innen einer Stadt an einem Strang ziehen. „Ein Konzept ist schnell erstellt, wird aber ebenso rasch scheitern, wenn es nicht gelingt, alle Beteiligten von der Idee zu überzeugen und ins gemeinsame Boot zu holen.“ Der Stadtentwickler weiter: „Waidhofen und Enns sind Paradebeispiele dafür, wie selbst in der Nähe von großen Mitbewerberstandorten wie Linz, Steyr, Wels und Amstetten gelegene Kleinstädte gut reüssieren können, wenn es die Stadtgemeinden verstehen, klare Signale pro Innenstadt zu senden. So schafft und garantiert man Investitionssicherheit für private Hausbesitzer_innen und Unternehmer_innen, und nur wenn das gegeben ist, wird auch jemand in Wohnungen, Geschäfte und die Sanierung von Häusern investieren. Waidhofen und Enns haben diesen Fokus in guter Kultur vorgelebt und damit eine Spiralbewegung in Gang gesetzt, die sie aber nun mit steten Bemühungen auch konsequent am Laufen halten müssen.“
Fahr nicht fort, kauf im Ort
Was bei all diesen Überlegungen oft nur am Rande bedacht wird: Belebte Innenstädte mit einem guten Mix von großen Ketten und kleinen inhabergeführten Geschäften können frei nach der Devise „fahr nicht fort, kauf im Ort“ auch entscheidend zur Umweltverträglichkeit einer Region beitragen. Der ressourcenintensive Bau neuer Gebäude auf der grünen Wiese entfällt zugunsten bestehender Immobilien. Innenstadt-Bewohner_innen genießen zudem den Vorteil kurzer Wege zu Geschäften, Praxen, Gaststätten und vielen kulturellen Angeboten und müssen nicht für jeden Liter Milch oder Laib Brot ins Auto steigen. „Man darf diesen Faktor aber auch nicht überbewerten. Die Bewohner_innen anderer Stadtteile oder umliegenden Gemeinden benötigen schließlich trotzdem ein Auto, um die Geschäfte erreichen zu können“, relativiert Roland Murauer, fügt dann seiner Aussage allerdings ein großes ABER hinzu. „Untersuchungen zeigen, dass Städte, die gut strukturierte und sichere Fahrradwege zwischen Wohngegenden und innerstädtischen Einkaufsräumen geschaffen haben, von einer enormen Verkehrsentlastung profitieren. Dort ist eine signifikante Verlagerung vom Auto zum Rad feststellbar. Eine belebte Innenstadt in Kombination mit einem gut ausgebauten Radnetz kann also eine echte Win-Win-Situation für alle Beteiligten sein.“
Radfahrwege ausbauen
Bürgermeister Krammer lächelt. Die Überlegungen von Roland Murauer sind ihm nicht fremd, die Mostviertler Stadt bemüht sich auch aus diesem Grund bereits seit einigen Jahren um neue Radwege und Radfahrstreifen. Im Sommer 2017 wurde nach dreijähriger Bauzeit das 55 Kilometer lange Herzstück des neuen Ybbstalradweges zwischen Waidhofen an der Ybbs und Lunz am See eröffnet. „Es war uns ein Anliegen, die Route vom Bahnhof quer durch die Innenstadt zu führen, damit auch unsere Bürger_innen die Wege nutzen können und unsere Innenstadt von den Radler_innen profitiert. Wir stellen seitdem während der Sommermonate deutlich mehr Frequenz fest, das vermeintliche Tourismus- und Freizeitprojekt Ybbstalradweg entwickelt sich zu einem echten Umsatzbringer für lokale Betriebe!“
Breite Auswahl am Bauernmarkt
Jetzt im Frühling ist davon freilich noch wenig zu spüren, dank dem Bauernmarkt ist in der Stadt aber auch so viel los. Eine junge Frau mit Kleinkind am Arm kauft eben einen Bund Schnittlauch, Salat und Karotten am Obststand. Ein älterer Herr hebt einige Meter weiter eine Jungpflanze hoch und betrachtet sie von allen Seiten. „Ich habe den Bauernmarkt sehr zu schätzen gelernt“, sagt er auf Nachfrage. „Hier bekomme ich alles, was ich für eine gute Jause brauche und sogar kleine Mitbringsel für meine Frau. Und dafür muss ich nicht einmal extra ins Auto steigen.“